HELSINKI CLUB

Sonntanz

Vor Jahren versetzte uns ein Bekannter mit der Begründung, Sonntage seien nichts für Kompromisse. Den Bekannten haben wir nicht mehr getroffen, die Attitüde haben wir beibehalten. Er hatte einen Punkt: am Sonntag ist das Wochenende schon fast vorbei, die Böden sind geputzt, die Einkäufe erledigt, für Erholung blieb keine Zeit. Deshalb machen wir am letzten Tag der Woche nur noch, worauf wir Lust haben. Bis jetzt hiess das: Frühstück, Zeitung, Spaziergang, Kuchen, Spaghetti, Tatort, Bett. Je weniger Aufregung, desto besser.

Auch Tom Rist hält stur an seinem Sonntagsprogramm fest. Der Bruder von Pipilotti Rist führt das Helsinki an der Geroldstrasse. Sein kleiner Klub unter der Hardbrücke ist bekannt für seine musikalische Grösse, fast jeden Abend steht eine andere Band auf der Bühne. Sonntags ist es seit 14 Jahren dieselbe: Die Hausband heisst Trio from Hell und besteht aus dem Schlagzeuger Aad Hollander, dem Gitarristen Heinz Rohrer und der Bassistin Bice Aeberli, die auf den verstorbenen Rienk Jiskoot folgte. Die Musiker, allesamt in die Jahre gekommene Profis, spielen eine Mischung aus Country, Rockabilly, Polka, Blues und Boogie. Sie selber nennen es Rock’n’Roll, alte Schule.

Das Helsinki umgibt einen verschrobenen Charme, wie die Kulisse eines Kaurismäki-Films. Am Eingang sitzt ein Mann mit Kapitänsmütze, vor ihm eine Schale voller Münzen. Es ist kurz vor zehn Uhr, überall hängen farbige Lämpchen, abblätternde Plakate, vergilbte Flyer. Wir zahlen sieben Franken und sind wenige Schritte später in einem Raum mit einer langen Bar und einer winzigen Bühne. In einer Ecke baumeln Schuhe von der Decke. Wir holen uns ein Bier und mustern die kuratierte Jukebox; es stehen gerade mal vier Bands zur Auswahl. Im Angebot sind Sophie Hunger, die hier ihre ersten Konzerte spielte, und Bright Eyes. Die anderen zwei kennen wir nicht.

Die meisten im Publikum sind um die fünfzig und bewegen sich so sicher im Raum, wie es nur Stammgäste tun. Die Musiker steigen unter Gejohle auf die Bühne, Sekunden später ist der Raum voll. Rohrers Finger sausen über den Gitarrenhals, Aeberli zupft den Bass, Hollander schlägt auf die Trommeln. Vor uns tanzen sie so hemmungslos wie Onkel Urs am Familienfest. Wir fühlen uns exponiert und überfordert. Wie tanzt man zu Rockabilly und Boogie? Unsere Hüften kreisen, die Füsse steppen, wir sind eben dabei, uns als Teil der Menge zu fühlen, als wir feststellen, dass wir die einzigen sind, die noch mit dem Gesicht zur Bühne stehen. Alle anderen haben sich umgedreht und scheinen einer Choreografie zu folgen, die der ganze Raum kennt. Stell dir vor, du bist an einem Flashmob und der Einzige, der das Choreo-Memo nicht gekriegt hat.

Zum Glück dauert das Debakel nicht länger als einen Song. Beim nächsten wandert ein Mikrofon durch die Menge, die unverständliche Laute hineinbrüllt, ohne sich einmal im Takt zu irren. Zwei Stunden später warten wir auf den letzten Bus, Schweissperlen auf der Stirn, das Abendessen verdaut, in bester Laune. Im Helsinki verabschieden sie den Sonntag so, wie jeder Montag starten sollte: Nüchtern, mit Hüftschwung.

HELSINKI, Geroldstrasse 35, 8005 Zürich.
Mo bis Mi siehe Programm, Fr bis Sa 20 – 4, So 20 – 2

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