OTTER & HAT

Trinkfest

Bullshit gibt es überall, schrieb Harry G. Frankfurt, und wir sind alle mitschuldig. Jeder redet über Dinge, von denen er keinen blassen Schimmer hat. Die meisten von uns tun es ohne böse Absicht; entweder aus Verlegenheit, oder weil wir es nicht besser wissen. Besonders gefährlich wird es bei Wein. Jeder muss eine Meinung haben. Keiner hat eine Ahnung.

Die alten Römer und Griechen beschränkten sich in ihrem Weinurteil noch auf Lob oder Kritik. Doch mit der zunehmenden Verbreitung des Getränks gab es plötzlich so viele Experten wie Trinker, und fast alle verzapften Schwachsinn: Kakao, Soya, Lavendel, Brombeergelée, Korinthenschokolade, flüssiges Viagra, Toastbrot. In den 80er Jahren hielt es die Expertin Ann Noble nicht mehr aus und erstellte eine Tabelle mit 72 Aroma-Beschreibungen, die heute als Wikipedia für Weinkenner gilt. Der Schwachsinn ist dadurch nicht weniger geworden. Nur strukturierter.

Wir wollen weder die Meinungen abschaffen noch mit dem Trinken aufhören. Aber wir sehnen uns nach Weinvermittlung mit viel Kostproben und wenig Geschwätz. Angeboten werden sie von Sommeliers, die Hut tragen oder Bart, sie heissen Madelyne Meyer, Benjamin Herzog oder Dominik Vombach, ihre Konzepte Edvin Uncorked oder Schöner Saufen. An Meyers Degustation lachten wir oft und tranken zu viel, um uns am nächsten Morgen an die Wissensperlen zu erinnern. Diesmal packen wir einen Kugelschreiber ein.

Unser Ziel ist das Kafi Freud oberhalb vom Schaffhauserplatz, wo Mirko und Carole als Otter & Hat während vier Wochen eine Pop-Up Weinbar betreiben. Ihr Konzept ist so pragmatisch wie der Name, den sie einem Zufallsgenerator verdanken: Zur Auswahl stehen sechs Weine, drei Weisse und drei Rote, je einer leicht, mittel, schwer. Die Auswahl wechselt jede Woche, jedes Glas kostet gleich viel, keine Flasche ist im Handel teurer als 25 Franken. Wenn das Weinschiff das Lyceum der Degustationen ist, ist Otter & Hat die Steinerschule: Jeder darf tun, was er will. Klassenbeste gibt es nicht.

Beim ersten Schluck schwören wir uns, den Mund nicht zu voll zu nehmen und bereits beim zweiten Glas von Brombeergelée zu sprechen. Wir schaffen es bis zum dritten. Dann hantieren wir mit Begriffen, als wären wir Baron Rothschild höchstpersönlich: rund, mächtig, knackig – was soll daran schwierig sein? Als Mirko und Carole den Laden dicht machen, haben wir violette Lippen und eine schwere Zunge. Wir mustern unsere Lieblingsflasche und kritzeln den Jahrgang auf unseren Zettel. Wir haben ihn nicht mehr gefunden.

OTTER & HAT, Schaffhauserstrasse 118, 8057 Zürich
Di bis Sa 17 – 22 Uhr, bis 2. Juni. Pro Glas 7.50 Franken.

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